Gift im Glas
K.O.-Tropfen in Bamberg? Die Gefahr fühlt sich fern an, bis sie einen plötzlich trifft. Eine Studentin erzählt, wie sie in der Sandstraße zum Opfer wurde und wie sie heute wieder ausgelassen feiern kann.
Foto: Paul Nardi
Im Café lässt Anna beide Hände schützend über ihrem Wasserglas ruhen. Sie erklärt, so mache sie es nun immer, wenn sie einen Drink in einer Bar bestelle. Im Club entscheide sie sich nur noch für Getränke, die es in Flaschen gibt. Im Bamberger Live-Club sei das klassisch Vodka-Mate: „Das Gute ist: Du kriegst den Deckel dafür.“ Beim Kontakt-Festival im Juni sei sie froh gewesen, dass es Weinschorle fertig abgefüllt in Flaschen gab. Zwar gab es keinen Kronkorken dazu, aber der Daumen der 25-Jährigen konnte auf der Flaschenöffnung ruhen und sie schützen. Wovor? Vor dem, was ihr selbst vor vier Jahren und einer Bekannten vor drei Monaten auf der Partycipate-Party passiert ist: K.O.-Tropfen. „Ein typischer Montag“, erinnert sich Anna an damals zurück. Mit einer Freundin ist sie um 20 Uhr unterwegs zum Schwof, der wöchentlichen Party im Live-Club. Anna bestellt sich ein einziges Bier – und trotzdem ist sie schon zwei Stunden später so fertig, dass ihre Freundin sie nach Hause bringen muss. „Ich muss mich wohl aufgeführt haben, wie der größte Freak“, sagt Anna. Sie schreit und lacht, tanzt und weint. „Ich konnte nicht mehr geradeaus laufen. Es war, als hätte ich mich mit fünf Flaschen Tequila abgeschossen.“
„Es war von Anfang an klar, dass das nicht dieses eine Bier war.“
Selbst kann sie sich an nichts davon erinnern. Als sie am nächsten Tag um vier Uhr morgens aufwacht, hat sie einen kompletten Filmriss. Zusammen mit ihrer Freundin, die sie die Nacht über nicht allein lassen wollte, rekonstruiert sie Stück für Stück den Abend. „Ich habe mich ein paar Mal übergeben“, erzählt Anna weiter. Übelkeit und Erbrechen zusammen mit Schwindel, Muskelkrämpfen, Kopfschmerzen und Konzentrationsstörungen seien klassische Symptome von K.O.-Tropfen, erklärt Joachim Knetsch, Chefarzt der Notaufnahme der Sozialstiftung Bamberg.
Die Tropfen basieren auf den chemischen Substanzen Gamma-Butyrolacton (GBL) und Gamma-Hydroxybuttersäure (GHB), im Volksmund auch Liquid Ecstasy oder Soap genannt. Ihre Wirkung werde durch Alkohol intensiviert, würde meist nach 15 Minuten eintreten und könne bis zu vier Stunden lang anhalten. Langfristige gesundheitliche Folgen gebe es aber nicht. „Es war wie der mieseste Kater der Welt”, meint Anna, „es war von Anfang an klar, dass das nicht dieses eine Bier war.“
Also geht sie am Morgen zusammen mit ihrer Freundin ins Krankenhaus. Den Ärzt*innen dort ist es jedoch nicht möglich, zwischen einer Verabreichung von K.O.-Tropfen und übermäßigem Alkoholkonsum zu differenzieren, erklärt Chefarzt Knetsch. Indizien dafür, dass es sich um K.O.-Tropfen handelt, seien nur ausmachbar, wenn eine ungewöhnliche Wirkung des Alkoholkonsums bei den Patient*innen auftritt oder wenn – wie bei Anna – die Menge mit der Wirkung nicht übereinstimmt. Dabei können auch Begleiter*innen eine große Hilfe sein, die im Krankenhaus das ungewöhnliche Verhalten ihrer Freund*innen angeben. Denn Gedächtnislücken seien nicht selten.
Jetzt muss es schnell gehen
Um den Verdacht auf K.O.-Tropfen bestätigen zu können, werden das Blut und der Urin der Patient*innen untersucht. Mediziner Knetsch erklärt, dass die Tropfen im Blut nur sechs Stunden sowie im Urin nur maximal zwölf Stunden nach der Einnahme nachweisbar seien. Die Proben würden eingefroren und in ein Speziallabor für Rechtsmedizin geschickt, so Knetsch. Er merkt zudem an, dass diese Prozedur ohne eine offizielle Anzeige für Patient*innen kostenpflichtig ist.
In Annas Blut können die Mediziner*innen K.O.-Tropfen nachweisen. Die damals 21-Jährige wird auch gynäkologisch untersucht, um eine Sexualstraftat ausschließen zu können. „Ich hatte Glück im Unglück“, betont Anna. Das Glück, von dem sie spricht, ist ihre Freundin. Wäre sie nicht an ihrer Seite geblieben, hätte sie mehr Probleme damit, das Geschehene zu verarbeiten. So aber könne sie sicher sein, dass ihr in der Zeit, an die sie keine Erinnerung hat, nichts passiert ist.
Nach ihrem Besuch im Krankenhaus erstattet Anna Anzeige bei der Polizei. Sie habe sich ernst genommen gefühlt, lobt Anna die Beamt*innen. In den 2000ern hätten dagegen einige nicht gewusst, wie mit Fällen von K.O.-Tropfen umzugehen sei, erzählt Harald Förtsch, der rund 20 Jahre lang in der Rauschgift-Abteilung der Bamberger Polizei tätig war und heute die Sicherheitsfirma Frankonia berät. Der pensionierte Hauptkommissar erklärt, dass es schon damals GBL, „die sogenannte Vergewaltigungsdroge”, gegeben habe. Doch selbst die Polizei habe damals nicht gewusst, womit genau sie es zu tun hatte. Heute habe sich das deutlich geändert, betont er. Die Polizist*innen wüssten, dass sie bei K.O.-Tropfen schnell handeln müssen.
Wie viele Fälle von K.O.-Tropfen die Polizei aufklärt, kann sie nicht beantworten. Denn eine gezielte Auswertung der Straftaten, die im Zusammenhang mit K.O.-Tropfen stehen, sei weder im Präsidialbereich Oberfranken, noch bayernweit möglich, so Christian Raithel, Pressesprecher des Polizeipräsidiums Oberfranken. Denn neben dem Tatbestand der gefährlichen Körperverletzung kämen diverse Folgestraf- taten wie Diebstahlsdelikte oder Sexualstraftaten in Frage. Annas Anzeige „hat natürlich nichts gebracht“, wie sie sagt. Trotzdem würde sie Betroffenen immer raten, zur Polizei zu gehen. Sonst könne sich ja nie etwas ändern, meint Anna.
Als Grund für das Zögern der Opfer wird häufig Scham angeführt. Anna findet diesen Gedanken schlimm: „Das letzte, was ich bei meiner Situation sehe, ist, dass ich irgendeine Schuld daran trage.” Sie betont: „Du kannst ja nichts dafür!” Ihre Bekannte, in deren Blut nach der vergangenen Partycipate-Party K.O.-Tropfen nachgewiesen worden sind, scheint Annas Rat gefolgt zu sein: Das Polizeipräsidium Oberfranken bestätigt, dass im Zusammenhang mit dem Live-Club Ende April eine Strafanzeige gegen Unbekannt eingegangen sei, bei der der Verdacht K.O.-Tropfen vorgebracht wurden. Daraufhin habe die Polizei kriminalpolizeiliche Ermittlungen wegen des Verdachts der gefährlichen Körperverletzung eingeleitet.
„In der Disco bist du chancenlos.“
Anna hofft, dass die Clubs ihr Konzept hinterfragen, wenn sie von den angezeigten Vorfällen erfahren. Felix Bötsch, Geschäftsführer des Live-Clubs, erzählt, er sensibilisiere seine Mitarbeiter*innen halbjährlich bei einem Vortrag für das Thema. Hauptkommissar a. D. Förtsch meint aber: „In der Disco oder auf Veranstaltungen bist du chancenlos.” Er selbst sei in seinem Berufsleben mehrmals mit Fällen von K.O.-Tropfen konfrontiert gewesen: „Immer war es dämmrig, dunkel, niemand hat etwas gesehen.“ Es sei reiner Zufall, wenn das Personal eine*n Täter*in erwische.
Aber wie kann das Risiko minimiert werden? Eine Idee für mehr Sicherheit in seinem Club habe Bötsch in Planung: Ab der Sandkerwa Mitte August wolle er am Eingang Armbänder verkaufen, die beim Eintauchen in ein Getränk auf einem Teststreifen anzeigen, ob sich K.O.-Tropfen in diesem befinden. Anna findet die Idee gut. Zudem wird der Eingangs- und Thekenbereich des Live-Clubs videoüberwacht. „Das ist kein schlechter Ansatz”, meint Förtsch. Manche Täter*innen könnte eine Kamera abschrecken. Weil aber nicht jeder Fleck gefilmt werden könne, es in Clubs dunkel und die Auflösung oft schlecht sei, hätten Kameras bei entschlossenen Täter*innen trotzdem keine Chance, räumt er ein. Auch Bötsch erzählt, dass die Aufnahmen der Kameras nach Verdachtsfällen zwar von der Polizei gesichtet würden, häufig aber nicht viel darauf zu erkennen sei.
Dann lieber zuhause bleiben?
Für Anna ist das keine Option. Stattdessen habe sie sich mit ihren Freund*innen eine „Safe Zone“ aufgebaut. Feiern sie zusammen, passen sie aufeinander auf. Dazu zähle es, sich vor dem Gehen zu verabschieden: „Es ist ein bisschen, wie wenn du dich bei Mama und Papa an- und abmelden würdest.“ Genau dazu rät auch Chefarzt Knetsch. Da K.O.-Tropfen oft nachwirken, sollten die Betroffenen auch nachts nicht ohne Aufsicht gelassen werden. Knetsch betont dies so intensiv, da das Opfer, nachdem die gewünschte Wirkung der K.O.-Tropfen erzielt ist, in akuter Gefahr ist: „Es wird zu einer Zielscheibe.” Denn nach Eintritt der Wirkung folgt die von dem*r Verabreicher*in beabsichtigten Straftaten wie Sexual- oder Raubdelikte.
Auch wenn Anna trotz ihrer Erfahrungen wieder ausgelassen feiern kann, hat sich etwas verändert. Was sie bestellt, hängt nicht vom Geschmack, sondern vor allem davon ab, wie gut sie den Drink schützen kann. Sie habe aber immer noch Freundinnen, die wüssten, was ihr passiert ist, und trotzdem Getränke von Fremden annehmen würden. Anna bekräftigt: „Das würde ich wirklich niemals mehr machen.“
Hinweis: Anna heißt nicht wirklich Anna. Wir haben ihren Namen auf ihren Wunsch hin geändert. Privat geht sie zwar offen mit dem Thema um, vier Jahre nach der Tat möchte sie aber nicht wieder häufiger darauf angesprochen werden.