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“Du musst nur genügend Biss haben, dann schaffst du alles!”

von Janina Müller

„Du musst nur genügend Biss haben, dann schaffst du alles!“

Seit der Weimarer Republik soll nicht mehr die familiäre Herkunft über den schulischen Werdegang entscheiden, sondern die erbrachte Leistung. Susanne Ress vom Lehrstuhl für Allgemeine Pädagogik an der Universität Bamberg und Elena Glöckl, Studentin der Schulpsychologie an der Universität Eichstätt, sprechen über Potenziale und Probleme des Leistungsprinzips von damals, heute und morgen.

Viel Text, alte Schwarz-Weiß-Fotografien. Liest man in Büchern, die die Pädagogik der Weimarer Republik behandeln, fällt auf, dass sich die junge Demokratie nicht nur hinsichtlich der Politik, sondern auch der Bildung in Aufruhr befand. Geschehnisse wie der Erste Weltkrieg dürften nicht nochmal passieren. Was Deutschland brauche, sei eine umfassende Bildungsreform. Einige Jahre später wird sich die Situation wiederholen: Wieder war Krieg, wieder wurde eine Reform gefordert. Dennoch besitzt auch das heutige System Parallelen zum Alten, wie zum Beispiel das dreigliedrige Schulsystem und das Leistungsprinzip als Entscheidungskriterium dafür, wer welchen Bildungsweg einschlägt, wer welchen Abschluss erhält, wer welche Zugänge zu bestimmten Ressourcen bekommt. Raus aus der einsamen Bücherstube, rein in den voll besetzten Seminarraum: Susann é Ress steht vorne an der Tafel. Darauf steht „strukturelle Diskriminierung“. Die Studierenden sind aufgefordert, Gleichheitsansprüche schulischen Unterrichts kritisch zu hinterfragen: „Entsteht Chancengleichheit dadurch, dass von allen Schülerinnen und Schülern die gleichen Leistungen gefordert werden?“ Was passiert, wenn alle dieselbe Klassenarbeit schreiben, wenn alle dieselben Erwartungen erfüllen sollen? Wenn allein die Leistung entscheidet, ob jemand weiterkommt oder nicht, nicht die Herkunft, nicht die Ausgangs-bedingungen?

Über den Grundgedanken des Leistungsprinzips
Im Gespräch macht Ress deutlich, dass der Grundgedanke des Leistungsprinzips ein freiheitlicher ist: „Nur weil du nicht der Sohn vom König bist, bist du eben nicht automatisch weniger schlau.“ Die angenommene Kausalität zwischen familiären Hintergrund und Fähigkeit wurde aufgebrochen. Eine wichtige Veränderung des Diskurses, die auch notwendig sei, für die Bewältigung immer komplexer werdender Herausforderungen einer globalisierten Welt: „Es braucht Fähigkeiten und Kompetenzen aus unterschiedlichsten Erfahrungswelten und diese können nicht an einem a priori festgesetzten Aspekt wie der familiären Zugehörigkeit festgemacht werden. Da würde uns unheimlich viel Talent verloren gehen.“

„Wenn eine Norm oder ein Maßstab der Kreativität entgegensteht, dann ist es langfristig nicht sinnvoll.“

Probleme des Leistungsprinzips in der Ausgestaltung

Trotzdem kann das Leistungsprinzip, zumindest in seiner Ausgestaltung, auch den gegenteiligen Effekt haben. „Wenn eine Norm oder ein Maßstab der Kreativität entgegensteht, dann ist es langfristig nicht sinnvoll“, sagt Ress. Ist das Leistungsprinzip so eine Norm? Laut Statistischem Bundesamt haben von den Kindern, die 2019 das Gymnasium besuchten, 67,1 Prozent der Eltern ebenfalls das Abitur. Hingegen haben nur 5,9 Prozent einen Hauptschulabschluss. Auch im Hinblick auf die Aufnahme eines Studiums spielt der Elternhaushalt eine Rolle: Laut Bildungsbericht 2020 nehmen bei sehr guten Abschlussnoten 89 Prozent der Studienberechtigten aus nichtakademischen Haushalten ein Studium auf, wogegen es bei Studienberechtigten aus Akademikerfamilien 96 Prozent sind. Faktisch herrscht also eine Ungleichheit, abhängig von der jeweiligen Herkunft.

Die Studentin Elena Glöckl sieht das Problem bei der Fokussierung auf das Ergebnis. Die unterschiedlichen, strukturell bedingten Hindernisse auf dem Weg zum Ergebnis blieben meistens unberücksichtigt. Die Stimme klingt empört, der Blick ist ernst. Lernende seien nicht ausschließlich von ihrem familiären Hintergrund vorbestimmt, sie könnten aber vom umgebenden Milieu bis zu einem gewissen Grad beeinflusst werden, da damit unterschiedliche Förderungsmöglichkeiten einhergingen. Problematisch sei, dass das Notensystem die Leistungskompetenz gar nicht richtig messen könne. Hinzu käme ein Leistungsdruck, der durch die Erwartungen der Eltern, der Schule, der Gesellschaft und schließlich sich selbst entstünde. Würde es zu viel, könne es zu Angstsituationen kommen. Symptome seien laut Glöckl „Schwitzen, Blackout in Prüfungssituationen, Schlafstörungen oder auch Schulverweigerung“.

Was anders gemacht werden muss

Damit es erst gar nicht dazu kommt, muss das Leistungsprinzip weiterentwickelt und der Blick vor allem auf Qualität statt Quantität gelegt werden. Laut Ress brauche es individuelle Förderung. Entgegen der Tendenz, viele Berufe zu akademisieren, sei für Glöckl mehr Wertschätzung für verschiedene Bildungswege und Berufe notwendig – eine Wertschätzung der Vielfalt, die auf individuellen Interessen und Fähigkeiten basiere.

Für Susanne Ress und Elena Glöckl ist es Zeit, die Bücher über das Bildungssystem der Weimarer Republik wieder in den Schrank zu stellen, diesen Abschnitt zu verlassen und neue Wege zu wagen, damit alte Ideale endlich verwirklicht werden.